7. Juni bis 7. Juli 2018
Judith Leupi___Fugue
Seit vier Jahren lebt Judith Leupi in Glasgow. Für ihre neuesten Arbeiten hat sie ihren Lebensraum, die Stadt in der sie ihr Kunststudium abgeschlossen hat, zum Gegenstand ihrer fotografischen Entdeckungsreise gemacht. Sind es die gelben Kacheln an der Hauswand, an der sie täglich vorübergeht, ist es der Spielplatzboden, dessen Beschaffenheit sie seltsam affiziert, oder ist es eine Treppe, die ihre Aufmerksamkeit gewinnt – stets sind es unscheinbare Details aus der Welt der Alltagsarchitektur, die Leupi mit ihrer Handkamera auf analoges Fotomaterial bannt. Mit der Linse ganz nah am Objekt, an dessen Oberflächenstruktur und Materialität interessiert, von dessen Spiegelglanz und Schattenwurf angetan, widmet sie sich dem von der Funktion losgelösten Objekt: schön wird, was per se als hässlich gilt, gross wird, was in seinem realen Kontext übersehen wird, Bedeutung erhält, was im Alltag belanglos erscheint.
Durch ihr weiteres Vorgehen setzt Leupi die Verkehrung der Dinge als Prinzip fort: Die auf gängiges Kopierpapier gedruckten Fotografien zerschneidet sie und faltet sie zu neuen, kleinen Objekten. Die entstandenen Röhren, Winkel und Tetraeder montiert sie mittels Klebstreifen, Fäden und bunt hervorblitzenden Stützen in papiernen Modellräumen. Sobald diese im Naturlicht des Ateliers richtig platziert sind, fotografiert Leupi die kleinen Bühnenräume erneut. Dieses Mal verwendet sie jedoch eine Mittelformatkamera, die sich als Studiokamera in verschiedene Winkel kippen lässt. Trotz des im Grunde starren Mediums der Fotografie erscheinen die fotografierten Objekte vor den monochromen Bildgründen zuweilen schwerelos und in Bewegung begriffen.
Als riesige Abzüge hängen die eigens für diese Ausstellung geschaffenen Fotografien von der Decke in den Raum. So wie Leupi die vorgefundenen Architekturen ihrer ursprünglichen Umgebung und Funktion entreisst, so schenkt sie ihnen in Form eines grün gesprayten Wiesengrunds oder eines gebauten Fotosetting einen neuen Bezugsraum. Das Korn der analogen Fotografie verleiht den Arbeiten zum Teil eine malerische Qualität. Eine weitere raumgreifende Fotografie erinnert an ein Spielfeld mit lückenhaft angeordneten gelben Kacheln, auf dem sich, wie bei «Tetris» lose Bauklötze zu bündigen Strukturen verschieben lassen. Durch die senkrechte Aufhängung wird die Illusion erzeugt, dass die Kacheln ihren Bildgrund verlassen und zu Boden fallen könnten. In der Arbeit mit dem Titel Stelzen verbinden sich Schatten werfende Treppenstufen mit türkisfarbenen Verbindungsstützen zu einer Art Riesen-Mobile. In einer kleineren, gerahmten Fotografie fügen sich gefaltete Metallstäbe zu einer Gitterstruktur, welche die Künstlerin selbst an einen Taubenabwehrzaun erinnerte und demzufolge zum Titel Pigeons inspirierte. Der ursprüngliche Kontext ihres Fotomaterials spielt für die Künstlerin keine prägende Rolle; vielmehr geht es ihr um die verschiedenen Übersetzungsschritte und die Möglichkeit, dem vorgefundenen Motiv durch ihre persönlichen Eingriffe, die Schritte von Selektion, Verfremdung und Inszenierung eine neue Formensprache, Virtuosität und Spannung zu verleihen.
Leupi versichert, dass der Titel und das Wissen um das konkrete Sujet der Aufnahme für das Lesen ihrer Arbeit nicht konstituierend seien. So geschieht es denn auch, dass wir als Betrachtende unser ganz persönliches Bildvokabular abtasten und in den Kompositionen sowohl formales wie auch erzählerisches Potential entdecken. Leupis Fotografien machen einen neugierig. Nahe am Werk suchen wir das Modell als gebaute Illusion zu entlarven: Parameter wie Grösse, Materialität und Schwerkraft folgen hierin eigenen Regeln und lösen sich von den uns vertrauten Gesetzen der Wirklichkeit. Ganz nah an der Fotografie entdecken wir – und folgen damit der aufmerksamen Betrachtungsweise der Künstlerin – die Schönheit im unbeachteten Detail und die Freude am erfinderischen Spiel zwischen Realität und Neuschöpfung.
Julia Schallberger