18. Juni bis 11. Juli 2020
Mirkan Deniz___What is your survival strategy?
Heute ist mein Weg zum Ausstellungspavillon ein anderer. Der Blick hoch in die Baumwipfel bleibt dieses Mal aus. Blaue Planen spannen stattdessen ein weites Dach über meinen Kopf und begleiten mich bis zum Ausstellungsraum. Die Künstlerin Mirkan Deniz gibt ihrer Installation den Titel safety corridor und schreibt ihr somit die Funktion eines Schutzkorridors zu. Als Besucherin werde ich performativer Bestandteil des Kunstwerks. Denn erst durch meine Präsenz und Bewegung vermögen die Planen ihren Zweck, mich zu schützen, einzulösen. Tatsächlich ist der Korridor im Stande, mich vor Regen und starker Sonneneinstrahlung abzuschirmen. Zudem wirkt er sich auf meine Wahrnehmung aus: so erscheint die vertraute Umgebung plötzlich in neuem Licht und mein Blick wird gezielt auf den Weg und die Architektur gerichtet. Mein Gefühl der Geborgenheit gerät aber schon bald ins Wanken. Spätestens dann, als mich die Künstlerin über die eigentliche Verwendung der Planen ausserhalb des Kunstkontextes aufklärt. So dienten diese im Syrienkrieg einst als Schutz der Bevölkerung. Dadurch, dass sie über die Strassen gespannt wurden, konnten die Flugzeugen nicht mehr erkennen, ob sich in dem anvisierten Bombardierungsgebiet Menschen befanden.
Dem Korridor folgt im Ausstellungsinnern eine Lichtinstallation mit dem Titel hanging in a room with history. Diese bezieht sich auf einen Fall, der sich 2017 in dem kurdischen Dorf Garzan ereignete. Der türkische Sicherheitsdienst mass sich an, ohne die Dorfbevölkerung zu informieren, auf deren Friedhof die Gebeine von 268 Begrabenen zu entwenden und zur Identifizierung ins zentrale forensische Medizininstitut in Istanbul zu bringen.
Nur zwölf Personen liessen sich 2019 identifizieren. Die Familien der ersten elf konnten ihre Angehörigen in Istanbul abholen, während die zwölfte Person der Familie in einer Plastikbox nach Kurdistan geschickt wurde. Alle bislang nicht identifizierten Toten wurden in gelbe Plastiksäcke gepackt, in luftdichten Boxen verstaut und unter einem Weg eines Istanbuler Friedhofs deponiert. Es wurden keine Bemühungen angestellt, diese würdig zu beerdigen, geschweige dann, den Angehörigen einen gebührenden Ort für ihre Trauer zu ermöglichen. Im Fokus stand einzig und allein die praktische Absicht, dass das forensische Institut jederzeit die Möglichkeit hätte, für weitere Identifizierungsversuche auf die Boxen zuzugreifen. Den Trauernden wurde der Besuch der Grabstätte den Tag hindurch untersagt und nur bei Nacht ohne Licht gestattet. Behelfsmässig zündeten diese daher ihre Handys und Taschenlampen an.
Auch Mirkan Deniz widmet jedem der identifizierten elf Personen eine gelbe, an die Trauerleuchten und gelben Leichensäcke erinnernde, Leuchtstoffröhre. Für die letzte, per Post versandte zwölfte Person steht das warmweisse Licht am Ende der Lichterkette. Den grossen Raum erhellend setzt die Installation eine Art Mahnmal für die Unterdrückung und Gewalt, welche die Kurden seit der Vierteilung Kurdistans im Jahr 1923 und bis heute unter dem türkischen Regime erleiden.
Mirkan Deniz, die selbst Kurdin ist, beschäftigt sich in ihren Skulpturen, Videos und Installationen vornehmlich mit kurdischen Themen; behandelt Kriegsgeschehen, Traumata, greift Vergangenheit auf und konserviert diese für die Zukunft. Ihr zentrales Anliegen hierbei ist es, mittels Kunst und ihrer persönlichen Möglichkeiten, diese ausserhalb der Türkei zu zeigen, auf die prekären Umstände der Kurdinnen und Kurden aufmerksam zu machen. Dabei lehnt sie die Wiederholung schrecklicher Bilder, wie man sie aus den Medien kennt, ab. „Ich möchte die Geschichte nicht wiederholen „, meint Mirkan Deniz nachdrücklich. Vielmehr möchte sie das Potential und die Sprache der Kunst nutzen, um bestimmte Themen in einer neuen Form zum Diskurs zu stellen.
So schnell lässt mich Mirkan Deniz‘ tiefgreifende Arbeit nicht los. Nachdenklich gestimmt lösche ich das Licht und trete im Schutz der blauen Planen meinen Heimweg an.
Julia Schallberger