23. März bis 22. April 2017
Jeannice Keller ____FLEX
Man stelle sich vor: Der Stoff, der als Welle von der Decke zu Boden sinkt und sich in Diagonalen in den Raum spannt, sei ein Bild. Ein grosses, weich gewordenes. Eines, das sich seinem Keilrahmen auch dann noch anvertraut, wenn dieser die plane, rechtwinklige Ordnung längst verworfen hat. Das Bild hängt, es bläht sich, wirft Falten. Es fängt und filtert Licht, um es auf der anderen Seite als Farbe dem Raum abzugeben. Alles andere ist dieses Bild – nur kein Träger. Ein Stoff ohne Erinnerung, der seine Geschichte aus der Bewegung bezieht – aus punktuellem Halt, aus dem Spiel der Luft sowie aus dem Dehnen und Wenden, das seine Fläche zusammendrängt oder spannt wie ein Segel.
Man sieht es nicht auf Anhieb, doch Jeannice Keller kommt aus der Malerei in den Raum. Sie wollte wissen, was das Material, das sich immer wieder so dienstbereit für Ideen einspannen lässt, aushält. Ob es, entsprechend herausgefordert, selbst etwas entwerfe. Verletzt hat sie die Leinwand nicht. Anders als Luciano Fontana, dessen Schnitte in den gespannten Stoff jedes Bild auch zur Metapher von Haut und Schmerz werden liess, bleibt die Integrität ihres Materials unangetastet. Jeannice Keller hat ihre Fläche zunächst von hinten provoziert: mit Abnähern. Jene unscheinbare, aber wirkungsvolle Technik der Schneiderei erlaubt, das Volumen eines Kleidungsstücks zu modellieren. Als bildnerisches Prinzip fügen Abnäher einer Fläche Volumen hinzu – systematisch, im rechten Winkel zum Stoffrand oder frei bewegt und in krummen Gesten, vor denen sich ein Textil aufwirft, Beutel ausbildet oder in tiefen Kuhlen die Schatten sammelt. Die Künstlerin stichelte ihr Material mit Nähmaschine und dem Bügeleisen an – zu verhaltener Linearität oder zum launisch aufgebäumten Relief. Gelegentlich setzte sie ein elastisches Plastikrohr ein und gab dem Stoff damit ein schlichtes Skelett, eine Muskulatur, die ihn zwischen Spannung und Fall zu halten vermochte.
So beansprucht ein Textil seine Bühne. Wobei ihm Jeannice Keller keine anekdotischen Nebenschauplätze zugesteht: Bisher setzte sie auf einen neuwertigen Baumwollstoff, der höchstens in der Farbigkeit, nicht aber in seiner Textur eine Palette an Assoziationen wachrufen könnte. Anders als ein dunkelroter Samt, der uns direkt in den Theatersaal lotsen müsste, bleibt das leicht fluoreszierende, baumwollene Orange von FLEX unbesetzt von Konventionen aus Innenarchitektur oder Mode. Anders als Dachlatten sind die den Raum vermessenden Vierkant-Leisten nicht einem baulichen Prinzip unterworfen. FLEX wird so zu seinem eigenen Akteur und Protagonisten. Einer, der sich da aufhält, um Bewegung zu speichern und den Blick zur Diele, zum Boden und zu den Fenstern zu leiten. Und FLEX ist ein Verweis auf Gelenk, Bewegung und Dehnbarkeit, die den Rahmen in Frage stellen: Ist er nur da, um Bewegung zu bannen? Oder stellt er sich auch in den Dienst eines Bildes, das den Raum erkunden will?
Isabel Zürcher