Geisseler Lukas

21. November bis 21. Dezember 2019

Lukas Geisseler___0,01% of Earth’s life

Als Auftakt und bildhafter Prolog zu Lukas Geisselers neuer Arbeit “0,01 % of Earth’s life” fungiert eine gerahmte Tuschezeichnung. In druckreifer Handschrift fügen sich Worte zur Gestalt einer kreisrunden Scheibe. Diese spezifische Form erinnert an die Silhouette der Erdkugel und verweist damit auf den Textinhalt. Als Vorlage zur zeichnerischen Übersetzung diente ein lexikalischer Eintrag aus dem grossen Munzinger Online-Wörterbuch, in dem sich naturwissenschaftliche Aussagen und Redewendungen gleichermassen zu einer allgemeingültigen ‘Definition der Erde’ verdichten.

Die ornamentale Gestalt des Schriftbildes mag dabei vorerst vom Studium des Textinhalts ablenken. Doch nicht nur formal – auch inhaltlich fordert Geisselers Installation dazu auf, genau hinzuschauen, und sich der Komplexität und Verletzlichkeit unserer Welt als ökologisches, ökonomisches und gesellschaftliches System gewahr zu werden. Dabei rückt die menschliche Gewohnheit ins Blickfeld, verheerende Prozesse wie etwa Klimawandel, Luftverschmutzung oder Ressourcenknappheit in ihren  Anfangsstadien zu übersehen und erst im Moment der grossen Katastrophe zu erkennen. Manifest wird diese Thematik im nächsten Raum. Verschwindend kleine, auf A4-Bögen zentrierte Tuschezeichnungen reihen sich im seriellen Reigen aneinander. Zu sehen sind Kurvendiagramme, basierend auf Statistiken zu ökologischen und sozialen Entwicklungen im Zeitraum von 1900 bis heute. Gefunden hat sie der Künstler in wissenschaftlichen Artikeln oder auf Onlineplattformen wie dem Datenkatalog der Weltbank oder auf der englischen Rechercheseite zum “Fortschritt gegen die grössten Probleme der Welt”.

Bei der Anordnung achtete er auf das Sichtbarmachen thematischer Zusammenhänge. Diese reichen von der steigenden Lebenserwartung und Bevölkerungsdichte über die zunehmenden Handyanschlüsse bis hin zum Energieverbrauch, dem Anstieg von Mikroplastik, der Erderwärmung und der sinkenden Biodiversität. Nachdem Geisseler die Zahlen in einen digitalen Einheitsmodus gebracht hatte, übersetzte er sie in das Medium der Zeichnung. Befestigt wurden die Zettel mit Magneten auf mausgrau gestrichenen Wänden. Die akkurate Hängung mag an geordnete Archivstätten denken. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die schlichten Tische im Raum, auf denen sich bunte Blätter stapeln. Bei diesen handelt es sich um die Auflistung bedrohter Tier- und Pflanzenarten. Die gefundenen Namen entnahm der Künstler der roten Liste des Bundesamts für Umwelt. Der Ausdruck erfolgte auf buntes Papier, um einer Bedrohungsskala gleich Vorkommnis und unterschiedliche Gefährdung der Arten zu veranschaulichen. In der Zusammenschau zeichnet sich das Bild einer sich laufend wandelnden Welt ab, in der Wachstums-, Zerfalls- und Zerstörungsprozesse unaufhaltsam voranschreiten. Oftmals im Versteckten oder dergestalt langsam ablaufend erfordern diese allerdings den Willen zur genauen Beobachtung.

Lukas Geisselers Vorgehensweise ist sorgsam und äusserst pointiert. Einem Wissenschaftler gleich sammelt er Daten, wählt aus, arrangiert, verwendet digitale wie analoge Techniken und setzt Linie, Farbe und Komposition überlegt ein. Die Aus- und Bewertung seiner Arbeiten überlässt er jedoch stets den Betrachtenden. Auf meine Frage, ob er seine Arbeit als rein künstlerischen Ausdruck betrachte oder damit eine politische, gar mahnende Absicht verfolge, antwortete er schmunzelnd: “Die Welt ist dergestalt aufregend, dass mich deren Sichtbarmachung weitaus mehr interessiert, als meine subjektiven Empfindungen zu Papier zu bringen. Mich fasziniert die Schnittstelle zwischen faktischer Welt und Kunst; der Kippmoment, bei dem die Arbeit als Kunst auf dem Spiel steht.

Wie der Künstler über den Ausstellungstitel verrät, macht der Mensch gerademal 0,01 % der irdischen Biomasse aus. Spätestens jetzt sollte uns jedoch klar geworden sein, dass jede unserer Entscheidungen und jedes Wegschauen über das Potential verfügt, die Kurve des Erdwandels ein kleines Stück nach oben oder unten zu korrigieren.       

Julia Schallberger