Lehmann Otto

21. Mai bis 2. Juli 2016
Otto Lehmann___Noli me tangere

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Die kleine, schwarze Barke auf dem Sideboard aus Karton will nicht einfach traurig sein. Auch wenn wir das meinen. Warum sonst wäre ihren Körperchen jene handwerkliche Zärtlichkeit eigen, die dem Wachs Gelenke schenkt und eigene Gesichtszüge noch dem winzigsten Holz? Es ist nicht umsonst, dass wir Wünsche an Körper und ihre mobilen Stellvertreter haften. Möge die Überfahrt glücken und die Dunkelheit der immer neu ansetzenden Linie den Schutz ausdehnen und nicht Bedrohung sein.

Otto Lehmann (*1943 in Solothurn) arbeitet seit einigen Monaten an einer neuen zeichnerischen Folge: Noli me tangere. In der Dynamik des Farbstiftstrichs wachsen Einzeller zu bunten Gestirnen aus, keimen Amöben im Farbkontrast, testen Wurzeln und Pilze das Fassungsvermögen von Hoch- oder Querformat. Dem bunten Gedeihen, das sich manchmal linear, manchmal flächiger vollzieht, scheint der Zeichner gelassen zuzusehen. Schon lange ertastet sein expressiver, ja ungeschönter Strich den Bildraum entlang eigengesetzlicher Ordnungen.

In der Auswahl an klein- und mittelformatigen Zeichnungen werden wir Zeugen einer verhaltenen Figuration, sehen bunte Seelen und schattige Geister, stossen im Traumbild an die Grenze zwischen Jetzt und Dann. Es gibt kein lineares Erzählen und keine Massstäblichkeit. Vielmehr: handschriftliche Aneignung mikroskopischer Tiefenschärfe. Oder: Blumentänzerin, Augenblatt, ein Alphabet organischer Rohzustände. Der ungeschliffene Blütenzauber verdankt sich einer grossen Aufrichtigkeit. Denn Otto Lehmann anerkennt im Unberechenbaren etwas Schönes, legt im Wunder der Erscheinungen Symptome der Endlichkeit frei.
Wer den Künstler fragt, wo denn das Erbgut seines Schaffens liegen könnte, wird sich über seine Antwort nicht wundern: Was ihn schon vor Jahren nachhaltig berührt habe, seien Werke von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Jenseits von Anpassung an Wettbewerb und Leistungsdruck offenbart deren Bildkunst ein Land mit eigenen Regeln, einen Spiegel der Sehnsucht, eine Direktheit, die verstört und berührt. Rühr mich nicht an, sagt der Ausstellungstitel und erinnert an die ausgestreckte Hand, die sich versichern möchte, aber die Samenkapsel nur zu fassen bekommt zum Preis ihres Zerfalls.
Otto Lehmann hat dem White Cube ein Fenster zurückgegeben. Es öffnet den Blick – auch zu seinen Objekten, die das Zeichnen als dreidimensionales Spiel erkunden und an den Ästen baumeln, als hätten sie, wenn auch fremd, schon immer dazugehört. (Text von Isabel Zürcher)