Kretz Sonja

12. Juni bis 10. Juli
Sonja Kretz und Severin Perrig___
Hörst du die Eisberge flüstern?

Hörst du die Eisberge flüstern? Was für ein bildhafter Titel”, denke ich, als ich durch den arktisch blauvioletten Vorhang in den Ausstellungsraum trete. Über einen Spiegel an der Wand erhasche ich einen ersten Blick auf die Installation von Künstlerin Sonja Kretz und Autor Severin Perrig. Diese erinnert mich an eine Laborsituation. Kühles Licht fällt auf vitrinengleiche Möbelstücke. Für die Konstruktion derselben nutzte Kretz die milchigen Platten von Gewächshäusern. Ich frage mich, was in diesen Schaukasten, die Severin Perrig auch als “Gebärstationen” bezeichnet, wohl heranwachsen mag. Wie der Titel vermuten lässt, handelt es sich um kleine Eisberge, die wie Kuchenstücke in einer Auslage auf ihre Käuferschaft warten. Entgegen der Erwartung, auf weiss strahlende Eisberge zu treffen, überraschen mich die Miniaturen mit warmen Pastelltönen. Die “hautige Farbe” habe den Zweck, dass die Betrachtenden sich mit den Eisbergen identifizieren könnten, so die Künstlerin. Tatsächlich sieht die künstlerische Fiktion von Kretz und Perrig vor, dass die Eisberge von Menschen gekauft und zuhause gross gezüchtet würden. Aus Gips, Beton, Modellbauplatten, Schaumstoff und Luftpolsterfolie geschaffen, reflektieren sie das Licht, scheinen mal weich, mal klotzig, mal beweglich, mal starr. Mit diesen Eigenschaften werden Wasser und Eis suggeriert, ohne diese bei der Herstellung zu verwenden.

Im Raum herrscht Stille. Zumindest, bis die Stimme von Severin Perrig hinter dem Vorhang ertönt. Eine Videoaufnahme bildet den zweiten Teil der Installation. Dabei handelt es sich um eine Art Laborversuch: Zu sehen ist ein Miniatureisberg, der in einem Aquarium unter Wasser gesetzt und so auf seine Schwimmfähigkeit hin geprüft wird. Dazu lausche ich einer Geschichte, die Perrig eigens zum Video verfasst hat. Diese erzählt von einem Vagabund, der immerfort in noch kleinere und stillere Räume zieht. Ein poetisch bildhafter, obskurer Text. Doch was hat dieser mit dem Topos der Eisberge zu tun? Ich suche nach Anknüpfungspunkten. Klang-, Material-, Raum- und Temperaturschilderungen mögen mich an das Wesen der Eisberge in ihren Schaukasten erinnern. Diese Bezüge bleiben jedoch vage und subjektiv. Die Installation verstrickt Kunst und Sprache, ohne dass eine Disziplin die andere zu erklären sucht, geschweige denn dominiert. Im physischen und dialogischen Ping Pong entstanden, funktioniert die Arbeit schliesslich als Schaltstelle zwischen Poesie, Technik und Naturwissenschaft und nähert sich an eine Utopie an, die sich vornimmt, etwas herzustellen, was zu gross und weit entfernt ist, um wirklich erfasst zu werden.

Die Installation ist Teil des Gemeinschaftsprojekts ParadEis welches Sonja Kretz und Severin Perrig 2019 lancierten. Ausschlaggebend war mitunter eine Reise nach Grönland: Beim Anblick realer Eisberge kam der Künstlerin der Gedanke, dass diese einschüchternden Riesen an diesem fernen Ort ganz sich selbst überlassen sind. Ruhend vor sich hinschmelzend. So, wie unsere Gesellschaft manch brisantes Thema einfach ruhen lässt.” Im Glauben, alles im Griff zu haben, brauchen wir etliche Ressourcen auf, bis nichts mehr da ist”, äussert sich Kretz im Gespräch. Was, wenn wir häufiger vorbeugend agieren würden? Fragen wie diese führten zum verrückten und zugleich verführerischen Gedankenspiel, was wäre, wenn sich Eisberge für den Heimgebrauch herstellen liessen. Das Gemeinschaftsprojekt ParadEis war geboren. Es folgten Recherchen und Forschungsreisen. Den Auftakt bildete ein “Artists in Residence “-Programm an der Berufsschule Aarau. Zusammen mit den Schülern gründeten Kretz und Perrig eine fiktive Manufaktur, in der das utopische Konzept, Eisberge künstlich herzustellen, von der Produktion bis zur Distribution mittels visuellen, textlichen und filmischen Mitteln durchgespielt wurde. Seither bemühen sie sich um weitere Kooperationen mit Experten aus Geistes- und Naturwissenschaften. So reizt sie nicht nur der Austausch zwischen Kunst und Literatur, sondern auch der Wunsch, aufzuzeigen, dass sich Kunst nicht nur bei der Wissenschaft bedient und diese in ihre eigene Sprache übersetzt, sondern auch selbst Inhalte schafft, die für die Wissenschaft anregend und bereichernd sein können. Es braucht eben nur die beidseitige Offenheit. “Wie wahr”, flüstere ich dem Eisberg in meiner Tasche zu und schliesse den Vorhang.

Julia Schallberger