Kouassi Lynne

18. Juni bis 11. Juli 2020

Lynne Kouassi___strangers, foreigners and colonizers

Inmitten des Ausstellungsraums liegt eine rundlich geformte Tontafel, in welche die Künstlerin Lynne Kouassi (*1991) die Begriffe “Heim”, Heimat”, “Heimweh” und “Fernweh” eingeritzt hat. Bedeutungsschwere Worte, die uns als Betrachtende dazu anregen, nach dem eigenen Werte- und Bezugssystem zu fragen: Was muss vorhanden sein, damit wir uns zuhause fühlen – ein Heim, ein intaktes Beziehungsgeflecht, kulturelle

Sicherheit? Und in welchem Verhältnis steht dieses Gefühl zu unserer Sehnsucht nach fernen, fremden Orten? Auf demselben Tonstück wird die etymologische Herkunft der Begriffe “indigenous”, “aboriginal” und “native” aufgeschlüsselt. So erklären die lateinischen Übersetzungen, dass die Zugehörigkeit indigener Völker zu einem spezifischen Gebiet “angeboren”, “genetisch”, oder durch den “Ursprung” bedingt seien. Dass diese Definitionen von Ambivalenz gezeichnet sind, lässt sich laut der Künstlerin unter Zuhilfenahme der USA aufzeigen. Dort spricht man mittlerweile häufig von „first nations“ und propagiert somit die Logik, dass Grund und Boden denjenigen gehöre, die ihn zuerst betreten haben. Bezogen auf Kouassis eigene Situation wirkt sich diese gutgemeinte Logik jedoch plötzlich als Ausländerfeindlichkeit aus.

Doch was ist es wirklich, was uns ein Heimatgefühl empfinden lässt? Sprache, Hautfarbe und Genetik sind keinesfalls allein prägend. Lynne Kouassi, die in der Schweiz geboren ist und über einen „afrikanischen Migrationsvordergrund” verfügt, beschäftigte sich in ihrem Schaffen erstmals 2016 mit dem Heimatbegriff. Zu diesem Zeitpunkt studierte sie in London im Master of Art in Fine Art. Zurück in der Schweiz greift sie ihre in der Fremde gestellten Fragen erneut auf und setzt sie künstlerisch um.

Im ersten Teil der multimedialen Installation illustriert sie den Mythos der Heimat-Idylle, indem sie Puzzles von schillernden Bergpanoramen, Berner Sennenhunden, Chalets, Schlössern und einsamen Stränden versammelt. Doch inwiefern deckt sich dieses touristisch portierte Bild mit der Selbstwahrnehmung einer einheimischen Bevölkerung? Nicht an die Wand gehängt, sondern lediglich angelehnt, kriegen die Heimatbilder Bodenhaftung und ergänzen gemäss Kouassi das davor befindliche Objektensemble um das Element der Erde. Bestehend aus Kerze, Feder und Muschel vereint dieses seinerseits die Elemente Feuer, Luft und Wasser. Unweigerlich werden im Kontrast zu den nostalgischen Puzzles Gedanken an Urlaubsorte, aber auch schamanisch-spirituelle Riten wach. Ein weiteres Set aus Tonkrug, Teetasse und Tagine – allesamt Gebrauchsgegenstände aus dem Haushalt der Künstlerin – erinnern an das Nomadentum und werfen Fragen auf zum Grundbesitz und zur Sesshaftigkeit. Ferner mögen die verschiedenen Objekte durch ihre Funktion als Bedeutungsträger dazu führen, dass die Betrachtenden eine exotisierende Perspektive einnehmen.

Tatsächlich interessiert sich die Künstlerin für das Spannungsfeld zwischen einem Heimatbegriff, der in progressiven Kreisen vornehmlich negiert wird und einer andererseits tiefen Sehnsucht nach indigener Kultur, welche im anhaltenden Boom der Schamanismus- und Hexenszene sichtbar wird. In diese Richtung zielt auch ein zur Installation gehöriges Video mit dem Titel „In meinem Wohnzimmer in Basel“. Zu sehen ist Lynne Kouassi, wie sie das Buch Natur und Menschenseele (Originaltitel: Nature and the

Human Soul) liest. Der nordamerikanische Psychologe und Wildnisführer Bill Plotkin proklamiert darin seinen Ansatz einer alternativen Entwicklungspsychologie. Die ausgewählte Passage, die als Rolltext über das Video läuft, erzählt von einer Visionssuche des Psychologen in den Grand Canyons, wobei er sich im Dialog mit der wilden Natur Antworten auf seine existentiellen Fragen geben lässt.

Lynne Kouassi versteht ihre künstlerische Praxis als politisch, jedoch nicht als aktivistisch. Ihr Ziel ist es, zum Denken anzuregen. Dies gelingt ihr hier, indem sie verschiedene ästhetische, ideologische und metaphorische Konzepte auffächert, die in ihrer Summe aufzeigen, mit welcher Sensibilität dem höchst komplexen Begriff von “Heimat” zu begegnen ist.

Julia Schallberger